Band II - Zweiter Teil Die Gebote Gottes
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In der früheren geschlossenen Gesellschaft war die Ehe in die Großfamilie eingebunden. Die Lebensgemeinschaft der Ehe und Familie war zugleich Wirtschafts- und Produktionsgemeinschaft. In ihr hatte die Weitergabe des Lebens den Vorrang vor der Partnerbeziehung, zumal es eine hohe Kindersterblichkeit gab. Zwar zeigen viele Beispiele, daß die Gattenliebe als hoher Wert gepriesen wird, aber die Erzeugung von Nachkommenschaft zur Erhaltung der Wirtschaftsgemeinschaft war oft wichtiger als die Liebe der Ehegatten.

Im Industriezeitalter änderte sich die Wirtschaftsstruktur. Die Großfamilie wurde aufgelöst. Heirat, eheliches und familiäres Leben werden von nun an nicht mehr durch ökonomische Interessen bestimmt, sondern man heiratet den Partner, den man liebt. Es entsteht die partnerschaftliche Ehe.

Mit den Veränderungen in der Arbeitswelt beginnen auch Frauen, außerhäusliche Arbeiten aufzunehmen und Berufe zu ergreifen, die früher den Männern vorbehalten waren. Erstmals in der Geschichte der Menschheit setzt sich auch praktisch durch, daß Mann und Frau, die gleichwertig und gleichrangig sind, als gleichberechtigt anzuerkennen sind.


Die Anerkennung der Gleichrangigkeit, der Gleichwertigkeit und vor allem der Gleichberechtigung der Frau hat sich auch heute noch nicht in allen Ländern der Erde durchgesetzt. Andere Religionen sehen die Stellung der Frau anders als das Christentum. Selbst im von Judentum und Christentum geprägten Bewußtsein ist das, was wir heute als selbstverständliche Konsequenz des Schöpfungs- und Erlösungsglaubens ansehen, erst in einem langen Prozeß zum Durchbruch gekommen.

Die Bibel deutet das in der damaligen Zeit bestehende Herrschaftsverhältnis zwischen Mann und Frau als eine Folge des Sündenfalls. Nach ihm spricht Jahwe zur Frau: "Du hast Verlangen nach deinem Mann; er aber wird über dich herrschen" (Gen 3,16). - Trotz der untergeordneten sozialen Stellung der Frau und trotz ihrer Einordnung in die Besitztümer des Mannes beruft sich die Bibel für die Gleichrangigkeit und Gleichwertigkeit der Geschlechter auf die ursprüngliche Absicht des Schöpfergottes (vgl. Mk 10,6f). Die rechtliche Durchsetzung der Gleichberechtigung kam in den damaligen patriarchalischen Strukturen der Gesellschaft allerdings noch nicht in den Blick.

Jesus rückte durch sein Verhalten die Würde und Gleichwertigkeit der Frau ins Licht. An seiner Predigt, an seinen Heilungen und an seiner Liebe zu den Menschen haben die Frauen ebenso Anteil wie die Männer. Er nimmt Frauen in seine Begleitung auf und läßt sich von ihnen unterstützen (Lk 8,1-3), tritt für eine verachtete Dirne ein (Lk 7,36-50) und durchbricht die damaligen gesellschaftlichen Schranken (Joh 4,27) und religiösen Tabus (Mk 5,28-34).

In seinen Aussagen über die Ehe (Mk 10,1-12; Mt 5,31f; 19,1-10; Lk 6,16-18) und vor allem im Wort vom Scheidungsverbot (Mk 10,6-9) richtet sich Jesus scharf gegen das jüdische Scheidungsrecht und nimmt Partei für die Würde der Frau. Er stellt heraus, daß die Frau nicht Besitz des Mannes ist und daß der Mann in gleicher Weise zur Treue verpflichtet ist wie die Frau. Damit macht er in den damaligen
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